* 13 *

Während Marcia wartete, bis der Leim trocknete, tat Septimus etwas viel Aufregenderes – er zwängte sich durch eine enge Falltür im Fußboden von Beetles Schuppen.
»Ich wusste gar nicht, dass man von hier aus in die Eistunnel hinabsteigen kann«, sagte er, während seine Füße nach den Sprossen der Leiter tasteten, die an der Eiswand unter ihm befestigt war.
»Der Personaleingang.« Beetle grinste zu Septimus hinauf. Sein Atem dampfte in der eiskalten Luft, und sein Gesicht hatte im Licht der flackernden blauen Lampe, die er soeben entzündet hatte, eine gruslige Farbe angenommen. »Miss Djinn zwingt mich, ihn zu benutzen. Schließt du die Luke, Sep?«
»Ja«, antwortete Septimus und zog den schweren versiegelten Lukendeckel zu, der unter der Falltür verborgen und typisch für alle versiegelten Eistunnelzugänge war. Er vernahm ein leises Zischen, als der Deckel sich auf sein Siegel senkte. Er zog den Alchimieschlüssel, den er um den Hals trug, unter seiner Lehrlingstracht hervor und drückte ihn in die kreisrunde Vertiefung in der Mitte des Deckels. Dann kletterte er an der kalten Metallleiter hinab und trat neben seinem Freund auf den glatten Boden des Eistunnels.
Der Drachenring, den er am rechten Zeigefinger trug, verströmte ein mattes gelbes Licht. Doch es war Beetles blaue Lampe, die das schöne weißblaue Eis, das die Innenwände des Tunnels bedeckte wie Tortenglasur, zum Funkeln brachte und ihre Schatten verzerrt an die hohe gewölbte Decke warf.
»Ich klettere rasch hinauf und versiegele die Luke«, sagte Beetle. »Dann können wir los.«
»Ist alles versiegelt«, sagte Septimus.
»Nein, Sep. Ich muss dieses Siegel hier benutzen ... siehst du?« Beetle hielt ihm eine Wachsscheibe hin – eine exakte Nachbildung des goldenen Zauberschlüssels, den er um den Hals trug. Als Antwort zog er den Schlüssel noch einmal hervor und wedelte damit grinsend vor Beetles Nase. Der schüttelte verdutzt den Kopf. »Scheibenkleister ... Ich will gar nicht erst fragen, wo du den herhast, Sep.«
»Marcellus hat ihn mir gegeben«, erklärte Septimus. »Damit sind Jenna und ich entkommen.«
»Aha«, sagte Beetle und vermied es taktvoll, Nicko zu erwähnen, der nicht entkommen war und immer noch in der anderen Zeit gefangen war. Bei der Erwähnung Nickos geriet Septimus nämlich immer ganz aus der Fassung, und das sah Beetle gar nicht gern. Er nahm einen einfachen Holzschlitten von einem Haken, der in der Eiswand befestigt war. »Willst du aufsitzen?«, fragte er.
Er hielt das Seil des Schlittens, während Septimus sich setzte. Dann nahm er seinen Platz vorn ein und klemmte seine Lampe so am Schlitten fest, dass sie als Scheinwerfer diente. In Erinnerung an seine letzte Schlittenfahrt mit Beetle klammerte sich Septimus fest, und keine Sekunde zu früh. Noch bevor er dazu kam, richtig Luft zu holen, schoss der Schlitten davon und nahm die erste Kurve, eine scharfe Rechtskurve, auf einer Kufe.
»Wo ... iiiiih!«, schrie Septimus, und getragen von der eisigen Luft, hallte sein Schrei meilenweit und verschmolz mit dem Geseufze und Gejammer von Geistern, das noch in den kalten Tunnelwinden nachklang.
Nach zwei Jahren als Prüfgehilfe war Beetle ein ausgezeichneter Schlittenfahrer, aber Passagiere war er nicht gewohnt. Weite Kurven nahm er, indem er auf halber Höhe an der Wand entlangfuhr, enge Kurven mittels Schleudertechnik, und wenn er anhalten musste, legte er eine, wie er es nannte, doppelte Drehung mit Rückwärtsgang hin und kam gegen die Fahrtrichtung zum Stehen. Nach ein paar Minuten war Septimus ziemlich grün im Gesicht. Er durfte ein wenig durchschnaufen, als der Schlitten langsam eine lange Steigung hinaufzuckelte, doch als das Gefährt zitternd oben ankam, begriff er, dass ihm das Schlimmste noch bevorstand.
Im Lichtkegel des blauen Scheinwerfers sah er vor sich einen langen, weiß glänzenden Tunnel, der in pechschwarze Nacht hinabführte, während sich die Decke über ihnen zu einem höhlenartigen Gewölbe erweiterte.
»Das ist meine Lieblingsstrecke!«, rief Beetle über seine Schulter nach hinten. »Festhalten!«
Septimus klammerte sich bereits so fest, dass er das Gefühl hatte, seine Finger wären an den Schlitten geschweißt. Er holte noch einmal tief Luft und wappnete sich. Wieder durchlief ein Zittern den Schlitten, als hole auch er noch einmal Luft. Dann schoss er in halsbrecherischem Tempo in die Tiefe, und mit einem Mal hatte Septimus das seltsame Gefühl, dass der Boden nicht mehr da wäre. Er blickte nach unten und bemerkte mit Schrecken, dass sie tatsächlich nicht mehr auf dem Boden fuhren. Der lag ungefähr sechs Meter unter ihnen. Sie flogen.
»Beeeetle ... anhaaalten!«, schrie Septimus, doch seine Stimme verlor sich im Wind.
Beetle hörte ihn nicht. Der Schlittensprung war das Beste an der ganzen Woche. Seit er ihn perfektioniert hatte, wollte er ihn Septimus zeigen. Dass Septimus seine Begeisterung möglicherweise gar nicht teilte, wäre ihm nie in den Sinn gekommen.
Sie landeten überraschend weich, flitzten über eine breite Eisbahn und hinein in einen Tunnel, der so eng war, dass Septimus die Hände vom Schlitten nahm aus Angst, sich an den Eiswänden die Knöchel aufzukratzen. Der Tunnel wand und wand sich. Beetle drosselte das Tempo, damit sie nicht steckenblieben, doch als sie langsam zwischen zwei hohen Eiswänden dahinrumpelten, bekam Septimus plötzlich schreckliche Platzangst. Dann endlich mündete der Tunnel in eine runde Kammer mit hoher Decke. Ganz unvermittelt brachte Beetle den Schlitten sanft zum Stehen.
»Da wären hier«, sagte er mit leiser Stimme.
»Wo?«, fragte Septimus und sah sich in dem großen Raum um. Er kam ihm bekannt vor, doch er wusste nicht, woher.
»Das ist die Stelle, die Marcia gemeint hat«, flüsterte Beetle laut. »Die wir uns ansehen sollen.«
»Marcia?« Septimus war verwirrt.
»Hat sie dir denn nichts gesagt?«, fragte Beetle.
»Marcia sagt mir überhaupt nichts«, antwortete Septimus finster.
Beetle stieg vom Schlitten. »Ist ja auch egal. Jedenfalls sollen wir was überprüfen. Hier unten gehen merkwürdige Dinge vor. Komm.«
Septimus trat vorsichtig aufs Eis und folgte Beetle, der im Gehen mit der hellen blauen Lampe die glatten Eiswände der Kammer ableuchtete. Plötzlich wusste Septimus, wo sie waren. »Das ist ja die Alchimiekammer!«, stieß er hervor. »Hier ... hierbin ich jeden Tag hergekommen.« Seine Stimme klang wehmütig. »Marcellus hat mir eine Menge beigebracht. Und er hat nicht die ganze Zeit an mir herumgemeckert.«
»Tja ... hmm«, sagte Beetle. »Ich wette, damals war es hier auch ein bisschen wärmer. Ah, wir sind am Ziel. Sieh mal, es ist geschmolzen und dann wieder gefroren.« Der Schein der blauen Lampe fiel auf die Eisplatte über der alten Tür der Kammer. Im Unterschied zum übrigen Eis, das Raureif bedeckte, war diese Platte ganz klar, und in ihr waren Hunderte Bläschen im Eis eingeschlossen. Septimus fühlte sich an einen von Beetles Fruchtblubbern erinnert, nämlich den mit Zitronengeschmack, den er persönlich nicht so mochte.
»Das ist neues Eis«, flüsterte Septimus.
Beetle zuckte mit den Schultern. »Ich weiß. Aber wenigstens ist es wieder gefroren. Ich prüfe kurz das Siegel.« Er drückte seinen Wachsschlüssel in die Metallscheibe neben der Eisplatte. »Es wird immer rätselhafter«, murmelte er. »Sie ist wieder versiegelt worden. Komm, Sep, wir müssen noch eine zweite Stelle überprüfen – aber vorher muss ich dir etwas zeigen.«
Fünf Minuten später legte Beetle eine doppelte Drehung mit Rückwärtsgang hin, und der Schlitten kam in einer Wolke aus aufspritzendem Eis zum Stehen. Septimus purzelte herunter und blickte, auf dem Eis liegend, an die blauweiße Decke eines Tunnels.
»Komm«, forderte ihn Beetle auf, fasste ihn an den Händen und zog ihn hoch. »Ich bin letzte Woche darauf gestoßen. Ich habe eine Abkürzung durch die Schmalgänge gesucht, und dabei habe ich das entdeckt.« Er deutete auf ein kurzes Stück lila Seil, das aus dem Eis hervorschaute.
Septimus kniete nieder und sah es sich genauer an.
»Hier unten gibt es keine Farben«, erklärte Beetle. »Deshalb ist es nicht zu übersehen. Ich habe versucht, es auszugraben, aber es geht nicht. Das Eis hat es fest eingeschlossen. So etwas kommt vor. Ich habe mal meinen Glücksschal verloren, und als ich ihn eine Woche später wiederfand, steckte er fünf Zentimeter tief im Eis. Eine Zeit lang sah ich ihn immer, wenn ich an der Stelle vorbeikam, aber das Eis zog ihn immer tiefer und tiefer, bis ich ihn eines Tages nicht mehr sehen konnte. Umso merkwürdiger, dass das Seil noch zu sehen ist.« Beetle kratzte mit seinem Taschenmesser am Eis und legte noch ein Stück des Seils frei, sodass jetzt ein paar Zentimeter herausstanden. »Dann mal los«, sagte er.
»Was los?«, fragte Septimus verdutzt.
»Das Seil packen und ziehen. Für mich will es nicht herauskommen, aber vielleicht für dich.«
»Wieso denn für mich?«
»Na, weil es dir gehört.«
»Was gehört mir?«
Beetle lächelte geheimnisvoll. »Du musst ziehen, dann kommst du selbst dahinter.«
Septimus schüttelte den Kopf und lächelte verwirrt, dann ergriff er Beetle zuliebe das ausgefranste Seilende und zog. Er bekam es gar nicht richtig zu fassen, doch zu seiner Verblüffung löste sich ein langes und dickes lila Seil aus dem Eis, und zwar so leicht, als würde es aus weichem Schnee gezogen.
»Es kommt!«, rief Beetle begeistert. »Ich wusste es. Zieh weiter, Sep!«
Septimus brauchte keine Ermunterung. Er zog und zog, bis das Eis auseinanderbröckelte und zwei goldene Kufen die Oberfläche durchbrachen. Verwundert zog Septimus noch einmal mit einem kräftigen Ruck, und aus den Tiefen des Eises kam der schönste Schlitten zum Vorschein, den er jemals gesehen hatte. »Der Zaubererturmschlitten«, stieß er hervor. »Beetle, du hast den Zaubererturmschlitten gefunden.«
»Ja«, sagte Beetle mit dem breitesten Grinsen, das Septimus seit Langem gesehen hatte. »Nicht schlecht, was?«
»Nicht schlecht? Das ist unglaublich!« Septimus wischte die dünne Schicht aus Eiskristallen von dem Schlitten und stellte ihn auf seine goldenen Kufen. Und dann stand er auf dem Eis und wartete geduldig, schnittig, hoch und schlank wie ein Rennpferd im Vergleich zu dem Ackergaul von Schlitten, mit dem Beetle fuhr. Das kunstvoll geschnitzte Holz, das mit länglich schmalen Einlegearbeiten aus Lapislazuli geschmückt war, fühlte sich fast warm unter Septimus’ Händen an, und die rote, goldene und lila Bemalung glänzte im Schein von Beetles Lampe. Von der Haltestange, die vorn zwischen die geschwungenen Endstücke der beiden Kufen gespannt war, baumelte an einem grünen Band eine goldene Pfeife.
»Kein Wunder, dass sie ihn verloren haben«, sagte Beetle. »Sie haben die Pfeife am Schlitten hängen lassen. Wie dumm von ihnen. Die musst du immer bei dir tragen, Sep. Hier.« Er band die Pfeife los und gab sie Septimus. »Er kommt immer, wenn du pfeifst. Und vielleicht wird das auch mal nötig sein. Diese Schlitten sind sehr nervös und dafür bekannt, dass sie gerne ausbüchsen. Ich wette, irgendein Lehrling hat eine halbe Ewigkeit nach ihm gesucht. Der Ärmste. Das muss ein Alb träum gewesen sein.«
Septimus steckte die Pfeife in die Tasche seines Kittels. »Danke, Beetle. Was du alles weißt. Sogar Dinge, die nicht einmal Marcia weiß.«
»Ich weiß gar nichts, Sep. Marcia weiß viel mehr, als du ahnst. Sie will es nur nicht sagen.«
»Mir jedenfalls nicht«, erwiderte Septimus.
»Worauf wartest du?«, fragte Beetle, um rasch das Thema zu wechseln, denn ihm hatte Marcia heute Morgen recht viel erzählt. »Willst du nicht aufsitzen? Ich zeige dir, wie eine doppelte Drehung mit Rückwärtsgang geht, oder sogar eine dreifache Drehung, wenn du willst.«
»Hm ... vielleicht später, wenn ich etwas Übung habe.« Septimus setzte sich vorsichtig auf den Schlitten, halb in der Erwartung, dass er gleich losflitzte, wie es Beetles Schlitten immer tat. Doch er blieb geduldig stehen, als warte er auf Anweisungen. »Wie fährt man diese Dinger eigentlich?«, fragte Septimus, dem in diesem Augenblick klar wurde, dass er sich nie erkundigt hatte, wie Beetle seinen Schlitten dazu brachte, die Eishänge hinauf-und hinunterzurutschen und immer genau das zu tun, was er wollte.
»Du denkst einfach fest daran, was er tun soll, und er tut es – natürlich nur, wenn der Richtige ihn fährt. Würdest du zum Beispiel versuchen, meinen zu fahren, würde er dich einfach ignorieren.«
»Also gut, dann wollen wir einen Versuch wagen«, sagte Septimus und dachte im Stillen langsam, ganz langsam fahren. Und tatsächlich, unter Beetles Gelächter setzte sich der Schlitten langsam, ganz langsam in Bewegung.
»Was hast du ihm denn gesagt, Sep?«, rief Beetle hinterher. »Dass er im Schneckentempo kriechen soll?«
»Es ist ja nur eine Probefahrt«, verteidigte sich Septimus.
»Dann probier doch mal, wie schnell er fährt«, schlug Beetle vor. »Ich wette, er ist spitze. Viel schneller als die alte Kiste hier.« Er trat liebevoll gegen seinen Schlitten.
»Vielleicht später«, erwiderte Septimus.
»Na schön«, sagte Beetle und schwang sich auf seinen Schlitten. »Aber vorher muss ich noch etwas erledigen, worum mich Marcia gebeten hat.«
Septimus strahlte – was kümmerte ihn Marcia, wenn er einen so schönen Schlitten besaß? »Einverstanden«, sagte er, »jetzt kann ich dir bei der Inspektion helfen. Wie sie es in den alten Zeiten gemacht haben.«
Beetle grinste. »Toll.«